Mariia Mylohorodska ist Projektkoordinatorin im Büro von DVV International in der Ukraine. Drei Jahre nach Russlands vollständiger Invasion ihres Landes berichtet sie, wie sie und viele andere Ukrainer*innen – inmitten von Krieg und Unsicherheit – im Lernen Stärke fanden.
Unsere Welt veränderte sich schlagartig
Am 24. Februar 2022 fragte der Krieg nicht, ob wir bereit waren – er stand einfach vor unserer Haustür. Wie Millionen Ukrainer*innen erwachte ich in einer neuen Realität – einer Realität voller Angst, Unsicherheit und Schmerz. Meine Psyche schaltete in den Überlebensmodus, aber ich schaffte es, mich über Wasser zu halten. Dabei halfen mir die strukturierte Arbeit, mit der ich vertraut war, und meine Verantwortung gegenüber meiner Familie und unseren Partner*innen, denn das Büro von DVV International in Kiew arbeitete ununterbrochen weiter.
Mein Geist weigerte sich, sich mit dem zu beschäftigen, was mir früher beim Entspannen geholfen hatte – Musik, Filme oder Bücher. Stattdessen wurde meine gesamte Gedankenwelt von Nachrichten in Telegram-Gruppen, endlosen Updates und der ständigen Beobachtung der Lage dominiert. In diesem Chaos war es schwer, Unterstützung oder ein Gefühl der Stabilität zu finden.
Wissen als Rettung: Wie Lernen zu meinem Anker wurde
Nachdem der erste Schock des Krieges abgeklungen war, suchte ich nach Möglichkeiten, einen Anschein von Normalität in meinem Leben aufrechtzuerhalten. Mein erster Gedanke war, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Glücklicherweise entstanden 2022 viele Online-Kurse und Selbsthilfegruppen – oft kostenlos oder sehr günstig. Ich schrieb mich für einen Kurs über psychologische Selbstfürsorge ein. Mit der Zeit merkte ich, dass strukturiertes Lernen – mit einer Lehrkraft und einer Gruppe – mir emotional half und eine dringend benötigte Ablenkung bot.
Im ersten Kriegsjahr absolvierte ich mehrere Kurse in Psychologie und Kunsttherapie. Im zweiten Jahr studierte ich die Geschichte der ukrainischen Literatur und begann mit dem Bleistiftzeichnen. Einige dieser Kurse fanden während Beschuss und Luftangriffen in Luftschutzbunkern, Korridoren oder Badezimmern statt. Dieses Lernen wurde für mich zu einer Art „Medizin“: Es gab mir ein Gefühl der Kontrolle über mein Leben und ermöglichte es mir, auch inmitten des Chaos zu wachsen und für die Zukunft zu planen.
Nicht nur ich: Warum Ukrainer*innen während des Krieges zum Lernen übergingen
Schon in den ersten Monaten des Krieges wurde klar, dass ich nicht die Einzige war, die das Lernen als Bewältigungsmechanismus nutzte. Auch meine Kolleg*innen und Freund*innen suchten Halt im Wissen – viele schrieben sich in psychologische Online-Selbsthilfegruppen ein, die von unseren Partnerzentren für Erwachsenenbildung angeboten wurden. Mit der Zeit nahmen sie ihre Sprachkurse wieder auf, erwarben neue berufliche Fähigkeiten und entwickelten ihre Hobbys weiter. Diese Aktivitäten boten nicht nur eine willkommene Ablenkung, sondern gaben ihnen auch das Gefühl, produktiv zu sein und ihrem Alltag Struktur zu verleihen.
Auf gesellschaftlicher Ebene wurde die Rolle der Bildung ebenfalls deutlich. Ukrainer*innen meldeten sich zu kostenlosen Online-Kursen an und nutzten Bildungsplattformen, die ihre Ressourcen zur Verfügung stellten. Die starke Nachfrage nach Wissen bestätigte meine persönliche Erfahrung: Bildung dient nicht nur dem Erwerb neuer Fähigkeiten, sondern hilft auch, in Krisenzeiten das seelische Gleichgewicht zu bewahren.
Bildung ohne Grenzen: Wie Erwachsenenbildungszentren dem Krieg standhalten
Trotz des Krieges setzten die Partnerorganisationen von DVV International in der Ukraine ihre Aktivitäten fort und weiteten sie sogar aus. Die Nachfrage nach Bildung nahm nicht ab – oft waren die Kurse schnell ausgebucht, und zeitweise gab es einen regelrechten Wettbewerb um die Plätze.
Besonders beliebt waren Angebote zur psychologischen Unterstützung, Erste-Hilfe-Kurse und berufliche Umschulungen. Ebenso gefragt waren Kurse in Persönlichkeitsentwicklung, Kunst, Staatsbürgerkunde und Sprachen. Diese Angebote vermittelten nicht nur neue Kompetenzen, sondern stärkten auch das Gemeinschaftsgefühl und halfen den Menschen, die Herausforderungen des Krieges besser zu bewältigen.
Zahlreiche Geschichten aus dem echten Leben zeigen, wie wichtig Bildung in diesen schweren Zeiten ist. So erhielt beispielsweise Dmytro Kutsenko, ein Veteran, der an der Erwachsenenbildungsstätte in Nikopol studierte, ein Unternehmensstipendium und belebte den Kirschgarten seiner Familie wieder. Halyna Bilous nutzte nach dem Besuch von Psychologiekursen am CE Network of Education Centers (Netzwerk von Bildungszentren) in Lviv ihr Wissen, um ihr Unternehmen aufzubauen. Nataliia Maltseva, eine Binnenvertriebene, studierte im Erwachsenenbildungszentrum der Region Poltawa und gewann ein Stipendium für die Gründung eines Unternehmens, das diätetische Süßigkeiten herstellt. Olena Smereka, Teilnehmerin eines Online-Kurses im Erwachsenenbildungszentrum „First“ in Saporischschja, entdeckte ihre innere Stärke und leitet nun Workshops und Schulungen, um anderen zu helfen. Dies sind nur einige Beispiele der vielen Geschichten, die aus den mit DVV International zusammenarbeitenden ukrainischen Erwachsenenbildungszentren hervorgehen.
Lektion aus dem Krieg: Warum Lernen mehr ist als nur Wissen
Lernen ist keine Universallösung, um die Härten des Krieges zu überwinden – und es wirkt vielleicht nicht für jede*n. Für viele – mich eingeschlossen – ist es jedoch zu einem wesentlichen Anker geworden, der dabei hilft, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen, das Gleichgewicht wiederherzustellen und neue Möglichkeiten zu entdecken.
Und jetzt lerne ich wieder. Bis Montag muss ich meine Hausaufgaben für den Kommunikationskurs erledigen, den ich letzte Woche begonnen habe. Denn selbst in den dunklen und schrecklichen Zeiten des Krieges geht das Leben weiter – und Wissen ist es, das uns voranbringt.