Erfahrungsbericht zum Weltflüchtlingstag 2025: „Ich musste meine Heimat zweimal verlassen“

Eine Frau sitzt im Freien auf einer Bank, an einem Tisch und hält ihre Handtasche auf dem Schoß fest.
Anush Aleqsanyan ist aus Bergkarabach nach Armenien geflohen

Mehr Menschen denn je sind aktuell auf der Flucht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sie reichen vom Verlust der Lebensgrundlagen über politische und religiöse Verfolgung oder soziale Benachteiligung bis hin zu geschlechtsspezifischer oder ethnischer Diskriminierung. Aktuellen Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge waren Ende April 2025 über 122 Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen: Im Jahr 2024 wurde laut des jüngst veröffentlichten UNHCR Global Trends Report sogar die Rekordzahl von 123 Millionen Geflüchteten erreicht.

Besonders hoch ist dabei der Anteil der Binnenvertriebenen (internally displaced people (IDP)), also jener Menschen, die innerhalb ihres Heimatlandes fliehen – er liegt mittlerweile bei 60 Prozent. Sie bilden damit die Mehrheit aller Menschen, die weltweit zur Flucht gezwungen sind.

Erwachsenenbildungseinrichtungen weltweit engagieren sich mit ihren Angeboten intensiv für die Unterstützung betroffener Menschen. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet Anush Aleqsanyan, die aus Bergkarabach nach Armenien geflohen ist, von ihren Erfahrungen und wie Bildungsangebote ihr dabei geholfen haben, neu anzukommen. 

Anush ist eine junge Mutter und Witwe aus Arzach, auch bekannt als Bergkarabach, einem umstrittenen Gebiet zwischen Armenien und Aserbaidschan, das seit dem Zusammenbruch der UdSSR umkämpft ist. Von den 1990er Jahren bis 2020 stand Bergkarabach unter armenischer Kontrolle und hatte sich als Republik Arzach für unabhängig erklärt, was jedoch von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wurde. Nach Militäraktionen in den Jahren 2020 und 2023 eroberte Aserbaidschan das Gebiet zurück und zwang über 100.000 ethnische Armenier*innen – die gesamte Bevölkerung von Bergkarabach – zur Flucht nach Armenien.

Anush ist mit ihren beiden Kindern nach Martuni, Armenien, geflohen und nimmt dort an Kursen  im Erwachsenenbildungszentrum „Bildungspalette” teil, das vom Martuni Women's Community Council mit Unterstützung von DVV International betrieben wird.

Das Interview wurde von Hasmik Petrossyan, der Koordinatorin des Zentrums, aufgezeichnet.

Warum mussten Sie Ihre Heimat verlassen?

Eigentlich musste ich meine Heimat nicht nur einmal, sondern zweimal verlassen ․․․ Als Aserbaidschan im September 2020 Arzach angriff, musste ich wegen der Militäraktionen mein Zuhause verlassen. Mein Mann brachte mich und meine beiden minderjährigen Kinder nach Armenien, in die Stadt Martuni. Er selbst kehrte zurück, um für unser Heimatland zu kämpfen, und wurde am 4. November 2020 bei der Verteidigung der Stadt Shushi getötet. Damals verlor ich meinen Mann, aber nicht meine Hoffnung, nach Arzach zurückzukehren. Im Jahr 2022 erhielt meine Familie eine Wohnung in Arzach (als Witwe eines im Kampf gefallenen Soldaten). Ich war glücklich, dass meine Kinder auf dem Land leben konnten, das mit dem Leben ihres Vaters erkämpft worden war, und beschloss, sie zurückzuholen. Doch 2023 verlor ich alles. Ich verlor nicht nur Arzach, sondern auch alle meine Hoffnungen für die Zukunft. Wie alle anderen musste auch ich fliehen. Ich verließ Arzach und ging nach Armenien.

Im September 2023 kamen Sie zurück ins armenische Martuni. Wie hat sich Ihr Leben hier entwickelt?

Am 28. September 2023 bin ich endgültig nach Martuni gezogen und habe beschlossen, hier dauerhaft zu leben. Ich fühlte mich wirklich elend, alles war düster – der Verlust meines Mannes, unserer Heimat, unseres zweiten Zuhauses in Arzach, unserer Arbeit – einfach alles. Wir hatten unseren Lebensraum gewechselt und waren weit weg von unseren Freunden und Bekannten. Sowohl meinen Kindern als auch mir fiel es schwer, uns an den neuen Ort zu gewöhnen. Ich hatte keine Arbeit, wusste nicht, wie ich überleben sollte und wo ich Unterstützung und Hilfe finden konnte. Damals erhielt ich erste sozialpsychologische Unterstützung in dem Erwachsenenbildungszentrum hier. Später schlugen sie mir vor, an ihren Kursen teilzunehmen.

Wie haben Ihnen das Erwachsenenbildungszentrum „Bildungspalette“ und seine Angebote geholfen, sich in Ihrer neuen Umgebung einzuleben?

2021 begann ich, im Zentrum einen Nageldesign-Kurs zu besuchen. Das war sehr hilfreich, da ich einen neuen Beruf erlernte, neue Leute kennenlernte, auch die neue Umgebung besser kennenlernte und endlich wieder einen Hoffnungsschimmer sah. Dank dieser Kurse arbeite ich derzeit als Nageldesignerin und kann meine Kinder versorgen. Im Jahr 2024 habe ich mich für Make-up-Kurse angemeldet und auch diese neue Fertigkeit erlernt. Das Zentrum hat eine wichtige Rolle bei unserer Integration in diese neue Gemeinschaft gespielt. Es bietet verschiedene Programme an, die uns helfen, uns hier willkommen zu fühlen, vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft zu werden, Konflikte zwischen den Einheimischen und uns zu vermeiden und uns auch kulturell auszutauschen. Eine besondere Gelegenheit für den Austausch war das Arzach-Fest, bei dem wir unsere Küche, unsere Bräuche und Lieder mit den Einheimischen geteilt haben. Das Zentrum nimmt uns auch mit zu verschiedenen historischen und kulturellen Stätten in Armenien. Kurz gesagt, sie tun alles, damit wir uns hier zu Hause fühlen.

Was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft?

Meine einzige Hoffnung ist Frieden. Hier unterstützen sie uns in jeder Hinsicht. Alles, was wir brauchen, ist Frieden, damit wir arbeiten und für unsere Kinder sorgen können.

 

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