Zwei Jahre nach der russischen Großinvasion in der Ukraine spricht Yana Dragovenko, Projektmanagerin bei DVV International Ukraine, über die Situation in ihrem Land und die Rolle von Erwachsenenbildung in Kriegszeiten.
Frau Dragovenko, wie erleben Sie den Krieg in Ihrem Land und wie gehen Sie mit dieser schwierigen Situation um?
Ich lebe jetzt mit meiner Familie in Pryluky, in der Region Tschernihiw. Hier fühle ich mich mit meinem fünfjährigen Sohn sicherer als in unserem früheren Wohnort Kiew, das ein strategisches Ziel andauernder, massiver russischer Raketen- und Drohnenangriffe ist. Es ist sehr traurig und schmerzhaft für mich, dass das Leben von Millionen von Ukrainer*innen zerstört wird, Zehntausende von Ukrainer*innen sterben und ganze Städte und Dörfer in Trümmern liegen. Die Menschen in der Ukraine zahlen einen hohen Preis für ihre Freiheit und für die Freiheit der demokratischen Welt. Dieser Krieg findet nicht nur zwischen der Ukraine und Russland statt: Es ist ein Krieg zwischen den Welten – zwischen Menschlichkeit und Brutalität, Demokratie und Totalitarismus, zwischen der Achtung der Menschenrechte und ihrer völligen Missachtung. Mein Cousin starb bei der Verteidigung unseres Landes. Viele Verwandte und Freund*innen sind jetzt in der Armee. Mein Glaube, meine Familie und die Menschen, die mir im Geiste nahestehen, helfen mir, mit der Realität des Krieges umzugehen.
Die russische Großinvasion in der Ukraine jährt sich am 24. Februar 2024 zum zweiten Mal. Was bedeutet das für den Erwachsenenbildungssektor?
In der Ukraine gibt es fast 4,9 Millionen Binnenvertriebene, und 6,2 Millionen Menschen sind Flüchtlinge. Menschen und Humankapital sind in der Ukraine derzeit der größte Wert. Dies führt zu einem riesigen Bedarf an Erwachsenenbildung: Wir brauchen persönliche, soziale und berufliche Kompetenzen, um das Leben von Millionen von Menschen wieder aufzubauen, und wir brauchen berufliche und technische Kompetenzen, um die zerstörte Infrastruktur wiederherzustellen.
Wie kann Erwachsenenbildung die ukrainische Bevölkerung in diesen schwierigen Zeiten unterstützen? Und wie haben die Anbieter von Erwachsenenbildung ihre Angebote angepasst, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden?
Während des Krieges sind die Erwachsenenbildungseinrichtungen zu einem Ort der Stärke, der Konsolidierung und Zusammenarbeit in den lokalen Gemeinschaften geworden. Das zeigt sich an vielen sozialen und ehrenamtlichen Initiativen, die in Erwachsenenbildungseinrichtungen gegründet wurden. So gab es beispielsweise Wohltätigkeitsveranstaltungen zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte, die gemeinsame Herstellung von Kleidung und Erste-Hilfe-Kits für die Armee, die Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln usw. Viele Kurse wurden von offline auf online umgestellt oder in einem hybriden Format angeboten. Neue Kursthemen sind hinzugekommen: medizinische Notfallversorgung, verschiedene Kurse zur psychischen Gesundheit (Kunsttherapie, psychologische Selbsthilfegruppen, Angstbewältigung), Kurse zur Ernährung in Stress- und Krisensituationen. Kurse für ukrainische Sprache, Geschichte und Kultur sind sehr beliebt.
Sie leiten das vom Auswärtigen Amt finanzierte Projekt „Reintegration von Kriegsveteran*innen durch die Schaffung von Bildungsmöglichkeiten“ von DVV International. Warum haben Sie Kriegsveteran*innen als Zielgruppe ausgewählt? Können Sie uns ein wenig über die Situation dieser Menschen erzählen?
Nach Prognosen des ukrainischen Ministeriums für Veteranenangelegenheiten könnte die Zahl der Kriegsveteran*innen in der ukrainischen Gesellschaft nach dem Ende des Krieges auf 5 Millionen ansteigen. Die Veteran*innen und ihre Familien stehen beim Übergang ins zivile Leben vor verschiedenen Herausforderungen: Probleme mit der körperlichen und geistigen Gesundheit, der Bedarf an rechtlicher Unterstützung und Probleme mit der Beschäftigung. Sehr oft neigen Menschen mit Kampferfahrung bei der Rückkehr in ihre Gemeinschaften dazu, ihre Werte zu ändern und neu zu überdenken, was ihnen im Leben wichtig ist. Dies führt oftmals zu einer Änderung des beruflichen Werdegangs und der Wahl eines neuen Berufs. Laut einer Umfrage des ukrainischen Veteranenfonds aus dem Jahr 2023 haben 24,4 Prozent der befragten Veteran*innen einen Bedarf an Bildung, 20,4 Prozent einen Bedarf an Beschäftigung und 63,6 Prozent den Wunsch nach einer unternehmerischen Tätigkeit. Erwachsenenbildung kann ein wirksames Instrument sein, um neue berufliche Fähigkeiten zu erwerben, einen neuen Beruf zu erlernen oder ein Unternehmen zu gründen.
Was sind die Hauptziele des Projekts?
Das Projekt unterstützt Kriegsveteran*innen und ihre Familien, sich wieder in das zivile Leben einzugliedern, indem es ihre beruflichen Kenntnisse, Fähigkeiten und ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt erhöht. Dazu verfolgen wir insbesondere folgende Ziele:
- die Einrichtung regelmäßiger Beratungs-, Orientierungs- und Berufsberatungsdienste in sieben Erwachsenenbildungseinrichtungen für mindestens 2.100 Veteran*innen und ihre Familienangehörigen;
- die Vermittlung neuer Kenntnisse und Fähigkeiten, um ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern und ihnen die Wiedereingliederung in das zivile Leben zu erleichtern;
- die Unterstützung der Gründung von Kleinunternehmen durch Veteran*innen.
Wir legen viel Wert darauf, die Bedürfnisse von Veteran*innen zu untersuchen und sie in den Umsetzungsprozess einzubeziehen. So arbeiten Veteran*innen und Familienangehörige beispielsweise in den Teams der lokalen Erwachsenenbildungseinrichtungen als lokale Koordinator*innen und Veteranenassistent*innen in Winnyzja, Mykolajiw, Nikopol und Poltawa mit. Es gibt außerdem eine regelmäßige Zusammenarbeit mit führenden Expertenorganisationen für Veteran*innen.
Welche Rolle(n) kann Erwachsenenbildung Ihrer Meinung nach in einer Zeit nach dem Krieg spielen?
Erstens kann Erwachsenenbildung die Einheit der ukrainischen Gesellschaft stärken. Toleranz und Respekt für unterschiedliche Erfahrungen, gewaltfreie Kommunikation und die Aufnahme eines Dialogs zwischen verschiedenen Gruppen sind hier besonders wichtig. Zweitens müssen wir darauf vorbereitet sein, in einer Gesellschaft mit einer großen Anzahl von Menschen mit Behinderungen zu leben. Das bedeutet, dass wir ein barrierefreies Umfeld in Bezug auf Infrastruktur und die verschiedenen Lebensbereiche – Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung – schaffen müssen. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Sexualerziehung für Veteran*innen mit Behinderungen – in der Ukraine nach wie vor ein Tabuthema. Drittens werden wir Ausbildungen und Berufe für die qualifizierte Wiederherstellung zerstörter Infrastruktur benötigen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir alle den Krieg erleben. Diese Erfahrung ist für jeden Menschen anders und einzigartig und oft traumatisch. Ein Trauma kann jedoch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung oder zu posttraumatischem Verhalten führen. Ich glaube, dass Erwachsenenbildung genau das transformative Werkzeug ist, um die Kriegserfahrung zu einem Dreh- und Angelpunkt für unser Wachstum in der Zukunft zu machen.